Vom herrlichstem Frühlingswetter begünstigt verließ ich Genf am Morgen des 22. April, um zum zweitem Male die französische Gränze zu überschreiten. Zum erstem Male befand ich mich in einer französischen Diligence, welche sich weniger durch bequeme Einrichtung — denn die Wagen sind etwas eng — als durch ihr ungemein rasches Fahren vortheilhaft vor den deutschen Postwagen auszeichnen. Gewöhnlich werden die schwerfälligen und furchtbar bepackten Wagen blos von 5 Pferden gezogen, von denen im erstem Gliede drei die Quere gespannt sind oder auf der Wildbahn gehen, wie man zu sagen pflegt. Das Umspannen auf den Stationen hält höchstens zwei Minuten an und auch zum Essen wird blos eine Viertelstunde oder höchstens eine halbe Zeit gegeben und man ist oft kaum fertig, als schon der verdammte Ruf des Conducteur: „A la voiture, messieurs, si vous plait!“ ertönt, dem unbedingter Gehorsam zu leisten ist, will man nicht unterwegs sitzen bleiben, denn gewartet wird auch nicht eine Sekunde. Der Conducteur in seiner blautuchenen Jacke mit silbergesticktem Kragen und silbernem Schild auf der Brust und mit seiner kaskettartigen Mütze hängt noch schwebend an der Seite des Wagens, um über das Coupé hinweg in die Imperiale zu steigen, wo sein Platz ist, als schon der blaubebluste Postillon mit seinem niedrigem grauem Filzhut im schnellstem Trabe davonfährt, welcher auch fortwährend beibehalten wird, selbst bergan. Geht es aber erst bergab, so fahren die Kerls im Galopp, soviel die Pferde laufen können. Wer daher zum erstem Male in einer französischen Diligence fährt und vielleicht von Hause aus etwas ängstlich beim Fahren ist, der vergeht vor Todesangst, wenn er sieht, wie man mit diesen schwer beladenen Wagen im rasendstem Carriere auf sich tausendfach krümmenden Straßen bergunterfährt, und man kann kaum begreifen, wie nicht öfters ein Unglück geschehen kann. Daß dies so selten geschieht, dazu mögen theils die vortreffliche Construction der Wagen, welche nicht leicht umschlagen können, theils die außerordentlich ebenen und mit größter Sorgfalt unterhaltenen Straßen viel beitragen, die fast in ganz Frankreich nichts zu wünschen übrig lassen.

Da ich ganz allein im Coupe war, hatte ich Muße, meinen Gedanken ungestört nachzuhangen und das herrliche Land, welches wir im raschestem Laufe durchflogen, nach Belieben zu betrachten. Kaum hat man die Faubourg St. Gervais im Rücken, als die schneeweiße Pyramide des Montblanc mit den Aiguilles de Chamouny hinter den grotesken Felsen des Mont Salève emportauchen und von da an sich mehrere Stunden lang nicht mehr dem Auge entziehen. Schnurgerade läuft die Straße durch die reichbebaute Campagne de Genève dem ungeheuerm Walle des Jura entgegen , an dessen Fuße sie nach Süden umbiegt und noch lange Zeit längs des Gebirges hingeht. Ich schwelgte eben im Anblick der prachtvoll beleuchteten piemontesischen Alpen, als der Wagen hielt und ein höfliches: „Bon jour monsieur! Votre passeport, si vous plait!“ mich in meinen Betrachtungen störte. Ein französischer Gendarme hielt zu Pferde am Kutschenschlag und forderte die Pässe ab, mit denen er eiligst davonsprengte. Ich winkte den in blauer Ferne verschwimmenden Bergen von Genf noch ein freundliches Lebewohl aus vollem Herzen zu und heftete meine Blicke eigenthümlich bewegt auf die sich vor mir entfaltenden Gefilde des alten Herzogthums Burgund. Die Schweiz mit ihren gemüthlichen Bewohnern erinnert immer noch sehr an das deutsche Vaterland und selbst der französische Theil derselben enthält noch so manche ächt germanische Elemente. Jetzt aber befand ich mich in einem total fremdem Lande, unter einem Volke, dessen Charakter keine Berührungspunkte mehr mit deutschem Sinne und deutschem Wesen darbietet. Denn während sich längs der deutschen Gränze beide Nationen unmerklich verschmelzen, was freilich nicht wunderbar ist, da jene Gränzprovinzen ehedem zu Deutschland gehörten, so erinnern die Bewohner der Bourgogne und Dauphinée mehr an ihre italienischen Nachbarn und an das Volk von Languedoc als an Deutschland. Die Physiognomieen werden mit jeder Meile markirter, lebhafter, geistig bewegter, mit einem Wort, südlicher; das Volk kann seine Gefühle nicht mehr ruhig in sich verschließen, sondern singt, lärmt und spricht mit lebhaften Gebährden unter einem gewaltigem Wortschwall über die gewöhnlichsten Ereignisse. Man liebt die Oeffentlichkeit; überall sieht man die Leute in und vor den Thüren arbeiten und selbst in dem elendestem Weiler giebt es ein Café, oft mit pompösem Namen, wo man Zeitungen findet und wo weidlich politisirt wird. Auch die Gegend, die Vegetation, die Form der Berge und der immer blauer werdende Himmel erinnern nicht mehr an das ferne Deutschland. Man sieht bereits wenig Waldung, die Berge sind kahl oder mit niedrigem Gebüsch bedeckt. Die Abhänge der Thäler werden steiler und die Gründe schluchtenartiger. So lange man noch den Jura zur Seite hat, ändert sich das Land nur unmerklich; sobald man aber hinter dem Städtchen Collonges, wo unsere Pässe gegen französische Interimspässe vertauscht wurden, das höchst romantische, am schroffem Felsenufer der Rhone gelegene Fort l’Ecluse erreicht hat, durch welches die Chaussee mitten hindurchgeht und dessen runde, mit mittelalterlichen Zinnen gezierte Mauerthürme drohend von den steilen Kalkfelsen herabblicken, machen sich die oben angedeuteten Veränderungen in der Landschaft deutlich bemerkbar. Unweit des Fleckens Bellegarde, wo sich die französische Douane befindet und das Gepäck aller nach Lyon reisender Passagiere plombirt werden muß, soll es in Nantua nicht einer nochmaligen Visitation unterworfen werden, wird das enge Rhonethal, indem es den Jura durchbricht, durch zwei mächtige Felsenberge dergestalt eingeengt, daß blos eine schauerlich finstere Schlucht übrig bleibt, durch welche die Rhone wildbrausend hindurch schäumt. Die Felsen nähern sich einander am Gipfel so bedeutend, daß man bequem über die Kluft hinwegspringen kann. Diese höchst sehenswerthe wildromantische Stelle heißt La perte du Rhone und ist unstreitig einer der malerischsten Punkte im ganzen Rhonethale. Ueberhaupt glaube ich, daß die an die Schweiz und an Jtalien gränzenden Provinzen Frankreichs hin sichtlich der malerischen Schönheit der Landschaft die bevorzugtesten vor allen sind, mit denen selbst die Pyrenäenprovinzen, soweit ich sie kenne, schwerlich concurriren dürften.

Ich verlasse meine Unterkunft, radle entlang der Hauptstrasse und kann schon bald den Radweg benutzen, der mich zuerst zurück in die Schweiz bringt. Ich geniesse die Aussicht auf die Ausläufer des Jura auf der einen Seite und auf Genf auf der andern. Ich kann sogar den Jet d’eau ausmachen. Eine steile Abfahrt bringt mich nach La Plaine, womit ich auf der Via Rhôna angelangt bin. Zuerst geht es durch den Wald, nahe am Fluss, dann steigt der Weg an (teilweise gehörig steil) und entfernt sich von der Rhone. Langsam habe ich Hunger, Google meint, dass es in Vulbens eine Bäckerei gibt. Der Duft von frisch gebackenem Brot kommt mir entgegen, und ich frühstücke bei der Boulangerie Maison Benoit. Ab hier folgt der Weg leider ziemlich lang einer Autostrasse mit rasantem Verkehr. Am einzigen Aussichtspunkt blicke ich auf das gegenüberliegende Fort de l’Ecluse. Willkomm beschreibt, wie er mitten durch das Fort gefahren ist. Ich bin leider auf der anderen Seite. Ein Mountainbiker erklärt mir, dass es heute  auf der Seite des Forts nur eine extrem verkehrsreiche Autostrasse mit vielen Lastwagen gibt, so kann ich das Fort leider nicht besuchen.

Ebenfalls beschreibt Willkomm La perte du Rhone als wildromantische Schlucht in der Nähe von Bellegarde-sur-Valserine. Wie ich lese, war die Stelle auch insofern interessant, als dass die Rhone hier in der trockenen Jahreszeit durch ein 60m grosses Loch in den Untergrund verschwand und 50 m weit unterirdisch floss. Seit 1948 ist die Stelle durch den Bau einer Talsperre überflutet. Die Via Rhôna ist leider ziemlich weit weg von diesem Ort. Die Autobahn wird auf einer Brücke überquert, danach ist die Strasse zum Glück verkehrsarmer. In Bovinens besuche ich die gleichnamige Grotte, die sei eine Nachbildung der Grotte von Lourdes. Über schmale Wege erreiche ich Bassy, wo ich in einem B&B ein Zimmer gebucht habe.