Es war ein heller sonnigwarmer Nachmittag, wie er uns Deutschen nur selten im April vergönnt ist, als ich Leipzig verließ, um, den Busen voll von mancherlei Hoffnungen, dem fernen Westen Europas entgegen zu eilen. Ich hatte wohlweislich meine Abreise um einige Tage verzögert, denn ich bin abergläubisch wie alle Deutsche und wollte mich nicht gern in den April schicken lassen. Deshalb hatte ich bis zum dritten gewartet, um mein Gewissen zu beruhigen.

Trotz des heitern Himmels und hellen Sonnenscheins vereinigten sich doch mancherlei Umstände, die keine recht heitere Reiselaune in mir aufkommen ließen. Auf der Straße gab es entsetzlichen Staub, da seit Wochen kein Tropfen Regen gefallen war, und der Rollwagen, in dem ich meinen Weltgang antrat, schlechthin die «Blamage», auch «der Blutegel“ von den Studenten Leipzigs genannt aus Gründen, die einem Jeden einleuchten werden, welcher je den beneidenswerthen Genuß gehabt hat, eine Fahrt in diesem edlen Fuhrwerke zu machen, war so vollgepropft von Menschen verschiedenartiger Race, daß es eben nichts Angenehmes war, in dieser von Staub, schlechtem Tabaksqualm und mannigfachen anderweitigen Ausdünstungen geschwängerten Atmosphäre lange Zeit zuzubringen. Dazu kam, daß unsere Rosse nicht gerade arabische Renner zu nennen waren und unserm Wagenlenker ebenso wenig als seinen edlen Thieren an einer schnellen Fortbewegung viel gelegen zu sein schien, ein Umstand, der mir von jeher bei Reisen im Wagen unangenehm gewesen ist. Allerdings hätte ich um so mehr Muße gehabt, mich an den Naturschönheiten der Gegend zu ergötzen — aber, du lieber Himmel, wir befanden uns ja auf der trostlosen Ebene zwischen Leipzig und Lützen!

Glücklicher Weise kam mir meine Phantasie zu Hülfe, die voll von Bildern von Don Quijote steckte, und ich glaubte mich schon versetzt in die dürren Ebenen der Mancha, hielt Markranstädt für den Wohnort der unvergleichlichen Dulcinea und glaubte schon den Ritter von der traurigen Gestalt auf seiner famosen Rocinante, wofür ich in aus jenem Olivenhain hervorsprengen und mit eingelegter Lanze jene Windmühlen angreifen zu sehen; als ich durch meinen Nachbar, der wahrscheinlich in Folge der Romantik der Gegend eingeschlafen war und an meine Brust sinkend mir einen zarten Rippenstoß mit seinem gedankenschweren Schädel versetzte, aus meinen süßen Träumen aufgeschreckt wurde und nun bemerkte, daß die genannten Windmühlen nicht der Mancha, sondern bloss Lützen angehörten und mein Olivenhain nichts als ein Gehölz dürrer Weiden war. «Gott sei Dank, das Schlimmste ist vorüber!“ seufzte ich mit gepreßtem Herzen, wieder in den Wagen steigend, der mir wie eine wandernde Menagerie vorkam, nachdem ich meine Nerven durch ein Glas sauern Weissbiers gestärkt hatte, welches der lützener Wirth mit der größten Seelenruhe für ächtes Bayrisch verkaufte. Langsam kommt auch zum Ziele!

Die Sonne versank purpurn hinter den violett umsäumten Höhen des Saalethales und ich bildete mir ein, ich sähe eine reizende Landschaft in italienischer Beleuchtung vor mir, als die Thürme von  Naumburg aus der nebligen Tiefe emporstiegen. Die erste Station der Reise war glücklich erreicht; wir freuten uns sämmtlich, unsere gepreßten Gliedmaßen wieder ein Paar Stunden frei bewegen zu können. Die guten naumburger Philister, welche rauchend, trinkend und kannegießernd in der düstern Wirthsstube des eben nicht sehr vorzüglichen Gasthofes saßen, staunten mich verwundert an, als sie hörten, daß ich nach Spanien reisen wollte. Eine bornirtere Idee mochte ihnen noch nicht vorgekommen sein und ein berliner Schneider, der sich auf seinen Mutterwitz viel einzubilden schien, rief mir pfiffig lächelnd zu: „Na, da nehmen Se sich man mal in Acht, daß Se nich zu viel Span’schbittern trinken, damit Se nich zu hitzig werden und am Ende jar uff die Pfaffen schimpfen, denn sonst werden Sie de Spanier ecklig und braten Se bei lebend’gem Leib. Uebrigens bejreife ich nich, warum Se nich lieber nach Beerlin jehen. Sehen Se, dort wachsen man alle Kräuter in dem botanischen Jarten, die uff der janzen. Erde zu finden sein; denn über Beerlin jeht doch nischt uff der janzen Welt!“

Beim Morgenessen habe ich ein anregendes Gespräch mit C. aus Argentinien. Er ist Percussionist, seine Vorfahren stammen aus Deutschland und er besucht die Orte seiner Familie. Ich packe meine Sachen und fahre nach neun Uhr los. Willkomm verliess die Stadt durch das Frankfurter Tor, das gibt es nicht mehr. Ich mache wenigstens ein Foto an der Kreuzung Jahn Allee/Thomasiusstrasse, dort muss das Tor gestanden haben. Durch die Elsteraue fahre ich in südlicher Richtung, biege dann gegen Westen zum Kulkwitzer See ab und komme nach Markranstädt. Da es leicht regnet, gehe ich bei Aldi einkaufen, dann hört der Regen schon wieder auf und ich fahre weiter. Willkomm schreibt, dass er sich wie in der Mancha vorgekommen sei, und tatsächlich erinnert die Landschaft an Spanien. Auf einer Sitzbank esse ich meine Aldi Einkäufe mit Blick auf Maisfelder. Durch weite Felder, Wälder und kuriose Dörfer gelange ich an die Saale und nach Weissenfels, wo ich gleich eine Kirchenführung erhalte. Die Aufsichtsfrau ist sehr engagiert, berichtet mir vom kommenden Ladegast Festival (Ladegast war der Orgelbauer), von den Ausstellungen in der Kirche; dass die Feuchtigkeit in Weissenfels ein Problem ist, alles auf Sandstein gebaut ist und die Häuser keine Keller haben. Die Feuchtigkeit setzt den Bildern und Stuckaturen zu, ausserdem wurden zu DDR-Zeiten viele Kunstwerke zugepflastert, sodass eine Restaurierung zur Sisyphos Aufgabe wird. In Weissenfels steht das Heinrich Schütz Haus, das lasse ich aber aus, da ich noch etwas Zeit für Naumburg haben möchte.

Nach dem bis anhin flachen Gelände geht es jetzt auch mal bergauf, und es kommen Kopfsteinpflaster wie bei Paris-Roubaix.

In Naumburg beziehe ich mein Zimmer im Hotel Zum Alten Krug und werde gleich zur Velo-Garage geführt, wo ich mein Gefährt einschliesse. Ich spaziere zum Dom und nehme den Audioguide für eine Besichtigung. Die Kirche ist riesig, hat zwei Chöre, welche durch Lettner (Schranken und auch Plattformen) abgetrennt sind. Vor allem der WestLettner und die Stifterfiguren aus der Werkstatt des Naumburger Meisters sind beeindruckend. Schön auch das Bild Maria Magdalenas von Lucas Cranach d.Ä.

Kurios ist die Darstellung schachspielender Affen im Ostchor. Um 18 Uhr schliesst der Dom, darum gehe ich etwas essen.