Das Hotel OH KEY Apartments war eine gute Wahl! Ich verlasse meine Unterkunft und folge dem Wegweiser nach Schlüchtern. Es ist bewölkt und eher kühl, ich ziehe meine Regenjacke an. Der Weg ist heute sehr gut markiert und führt weg vom Verkehr aus Fulda hinaus. Ich folge zuerst der Fulda, dann der Fliede. Im Dorf Fliede erinnert ein Pestkreuz an die Seuche. Der Weg steigt auf eine Anhöhe, wo ich einen alten jüdischen Friedhof finde. Von hier sieht man in der Ferne einen weiteren Kali Berg, die Abraumhalde Neuhof. Es geht wieder hinunter und weiter nach Schlüchtern, jetzt bin ich im Tal der Kinzig. Es ist nicht mehr weit nach Steinau an der Strasse, wo das Brüder Grimm Haus steht und das Dorf das Thema aufgegriffen hat. Ich fahre vorerst weiter zu meiner Unterkunft im Nachbardorf Marborn, wo ich mein Zimmer in der Pension Im Wiesengrund beziehe.
Ohne Gepäck fahre ich zurück nach Steinau und besuche das Museum Brüder Grimm Haus. Hier lebte die Familie mit den Brüdern Jacob, Wilhelm, Ludwig, Carl und Ferdinand und der Schwester Charlotte von 1791 bis 1798.
Die Ausstellung informiert über die Kindheit der Brüder, über die Familie Grimm und über das wissenschaftliche Wirken von Jacob und Wilhelm und das künstlerische Schaffen von Ludwig. Das Obergeschoss widmet sich der Märchenwelt. Unter den vielen Illustrationen sind mir die Bilder von David Hockney in Erinnerung und die Zinnfiguren-Dioramen von einer Künstlerin, deren Namen ich nicht mehr herausfinden konnte.
Die Ausstellung ist sehr vielfältig, die Informationen finde ich eher überwältigend und das Lesen des auf Bilder gedruckten Textes strengt an.
Ich schaue noch den Garten an mit dem lustigen Hexenhäuschen und den Sieben Zwergen, dann fahre ich die Hauptstrasse entlang. Beim Eiscafé Dolce & Freddo spricht mich der Kellner an und findet, ich brauche ein Stück Quarktorte. Kann man machen, dazu einen Kaffee. Der Kuchen ist hausgemacht und köstlich, das Besitzerpaar echt italienisch und originell, der Kellner vielleicht der Sohn? Vis-à-vis steht das Schloss Steinau, zuerst bin ich etwas unentschlossen, dann entscheide ich mich doch für einen Besuch. Und der hat sich gelohnt! Es hat zwei Ausstellungen, eine über die Geschichte des Schlosses und eine zweite über die Brüder Grimm.
Hier ist alles viel strukturierter, knapper und klarer, mit hervorragenden Illustrationen. Auch die Frauen der Familie werden gewürdigt. Die Bilderrolle mit dem Reisetagebuch von Ludwig Grimm ist auch zu sehen, ebenfalls seine Zeichnungen mit Fahrenden und Schwarzen.
Schwarze in Hessen? Ich staune und lese folgenden Text:
Mit seinem Verbesserungsvorschlag auf der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche reagierte Jacob Grimm 1848 auf § 1 des Verfassungsentwurfs, der jedem Deutschen das Staatsbürgerrecht zusprach. Aber wer war damit eigentlich gemeint? Für den Abgeordneten Jacob Grimm war die Angelegenheit viel grundsätzlicher: Alle Menschen, die in Deutschland lebten, sollten frei und Sklaverei verboten sein.
Im Kopf hatte er sicherlich die Vielfalt der Bevölkerung, die er in der der kurhessischen Residenzstadt Kassel beobachten konnte, wohin Familie Grimm ab 1798 sukzessive gezogen war.
Dort lebte eine der größten Schwarzen Bevölkerungsgruppen im deutschsprachigen Raum. Sie kamen als Bedienstete an den landgräflichen Hof oder waren Trommler und Pfeifer beim Militär. Hessische Söldnerheere kampften im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für die britische Kolonialmacht. Nach ihrer Rückkehr erlebte die Schwarze Community in Hessen-Kassel einen signifikanten Zuwachs.
und weiter:
Bemerkenswert ist Ludwig Emil Grimms ernsthaftes Interesse am Fremden‘ ohne jede exotisierende Verklärung. Zu seiner Zeit lebten in Kassel mehrere Menschen afrikanischer Herkunft, die ursprünglich als Hofbedienstete in die Stadt gekommen waren. Sie hatten sich integriert und waren Beziehungen mit Einheimischen eingegangen.
Ebenfalls spannend sind die Erläuterungen zur Sammlertätigkeit von Jacob und Wilhelm. Ich (und manch anderer wohl auch) habe mir vorgestellt, wie die beiden über Land zogen und alten Leuten zuhörten. Das ist aber nicht so:
Schriftliche Überlieferungen, aber vor allem mündliche Erzählungen bildeten die Grundlage für die Märchensammlung der Brüder Grimm. Entgegen der verbreiteten Vorstellung, dass Jacob und Wilhelm auf der Jagd nach Erzählungen durch das Land gezogen sind, wurden ihnen viele Märchen bei ihrem Kasseler „Tee- und Märchenkränzchen“ (Heinz Rölleke) erzählt, an dem auch die Schwestern
Hassenpflug teilnahmen.
Marie, Jeanette und Amalie Hassenpflug lebten in Kassel, hatten hugenottische Wurzeln, sprachen zu Hause Französisch und hatten Zugriff auf die entsprechende französische Literatur. Das spiegelte sich in ihrem Repertoire: Hierzu gehörte etwa Rotkäppchen, das sich bereits in der Mär-chensammlung des Franzosen Charles Perrault von 1697 fand. Wie die Hassenpflug-Schwestern waren es oft junge, gebildete Frauen, die den Brüdern Grimm Märchen lieferten. Ein ganz anderes Bild vermittelt hingegen der nicht übernommene Titelentwurf von Ludwig Emil Grimm für die Kinder- und Hausmärchen mit einer von Kindern umringten alten Erzählerin.
Eine lohnenswerte Ausstellung!
Auf dem Rückweg gehe ich bei tegut (gehört der Migros!) einkaufen und fahre zurück nach Marborn.