Sonntags, den 14. April, verließ ich an frühem Morgen bei nebligem Wetter den Vorort der Eidgenossenschaft in der nach Lausanne bestimmten Diligence. Die schöngebaute Straße, auf welcher man wie in der ganzen Schweiz kein Chausseegeld zu bezahlen braucht, führt durch Laubwaldungen bald in ein schönes, enges, von malerischen Sandsteinfelsen eingeschlossenes Thal, in welchem das Dorf Capelen wildromantisch an den Ufern eines tobenden Gebirgsbachs liegt. Gar lieblich nehmen sich an den saftiggrünen Bergabhängen die zerstreuten schweizerischen Bauernhäuser mit ihren flachen, steinbelasteten, weit überhängenden Schindeldächern aus, die auf eine rings um das Haus laufende Gallerie von zierlich geschnitzten Säulen gestützt sind. Erst in den Umgebungen von Bern habe ich diese allerliebsten ächt schweizerischen Häuser gesehen, welche mit einer Menge von sauber gearbeiteten und bunt bemalten Holzzierrathen bekleidet sind und ein außerordentlich wohnliches Ansehen haben.
Ueberall blühten zwischen den Häusern große Bäume von Kornelkirschen, auch die zahlreichen Nußbäume begannen bereits ihr Laub zu entwickeln, die Aeste der Kirschbäume bedeckten sich hier und da schon mit weißen Blüthen, auf den üppigen Matten sproßten Narzissen und Primeln, kurz, Alles verkündete mir, daß ich einem um vieles milderen Himmelsstrich nahe sei.
Bald überschritten wir die Gränze des Kanton Freiburg und erreichten gegen 9 Uhr das berühmte Murten mit seinem von grünenden Hügeln umschlossenen See, dessen blaugrüne Fläche vom frischen Morgenhauche leicht gekräuselt wurde. Murten, ein finsteres schmutziges Städtchen, ist der letzte Ort, dessen Bewohner deutsch sprechen oder wenigstens deutsch verstehen, alle Ortschaften weiter westlich gehören bereits der französischen Schweiz an. Dicht am See am westlichen Ausgange des Städtchens mahnt ein steinerner Obelisk an den berühmten Freiheitskampf der Schweizer und nicht weit davon steht auch das berüchtigte Schädelhaus.
Sobald man das freundlich auf einem Hügel gelegene Avence — das alte Aventicum — passirt hat, verflacht sich das Land außerordentlich und man glaubt sich eher in Norddeutschland als in der bergigen Schweiz zu befinden. Eine weite von Ackerland und vielen Weidengebüschen bedeckte Ebene breitet sich nach allen Seiten hin aus, links von waldigen Bergen begränzt, welche die Aussicht nach den Alpen hindern, rechts in der Ferne von einem hügligen, mit vielen Ortschaften — worunter das berühmte Granson — besätem Gelände umsäumt, das jenseits des neufchateler Sees liegt, den man aber nicht sehen kann.
Nach dem feinen Frühstück im Hotel de la Couranne mache ich mich auf den Weg. Gleich nach St. Ursanne wird der Tarif durchgegeben: 500 m Anstieg auf 9 km. Die haben es in sich. Ich erreiche den Mont Melon Dessus, leichte Wolken hängen in den Bäumen. Es geht weiter bergan bis in die Nähe von Sceut. Jetzt sieht es richtig nach Jura aus, mit Pferden, weiten Weiden und langen Hügelzügen. Nach zwei Stunden erreiche ich Saignelegier. Denner hat am Sonntag offen, sodass ich mir etwas zu Trinken kaufe. Die Weiterfahrt wechselt zwischen schönen Wegen und Autostrassen. Eine führt nach La Chaux-de-Fonds, aber die Veloroute entscheidet sich für einen Abstecher nach links, also mal schauen, was da kommt. Ein weiterer Anstieg! Gnadenlos führt der Weg hinauf zum Mont Soleil (1289 M.ü.M.). Und von da geht es nicht etwa einfach bergab, nein, der Weg schlauft sich durchs Gelände mit zahlreichen Abfahrten, aber auch Aufstiegen. Ich komme endlich zurück auf die Strasse, der folgt man 100 m aufwärts, dann geht es wieder auf angenehmen Wegen nach La Chaux-de-Fonds. Von hier nehme ich den direkten Weg nach Le Locle, wo ich meine Unterkunft habe. In Le Locle beginnt es kurz zu regnen, hört aber nach 5 Minuten wieder auf. Glück gehabt!
Ich beziehe mein Zimmer, finde nach einigem Suchen etwas zu essen und spaziere im teils schönen und teils etwas trostlosen Städtchen herum. 70 km 1363 m Aufstieg.
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